Offener Brief an Bundeskanzler Scholz

Krieg in der Ukraine ‒ Deeskalation jetzt!
Dem Schutz der Bevölkerung Vorrang einräumen!

 Die Deutsche Wirtschaftsnachrichten führten ein Interview mit Prof. Werner Ruf, einem der Erstunterzeichner des Offenen Briefes, hier einige Auszüge.
Das vollständige Interview findet man auf der
Seite der DWN, sie ist aber nur für Abonnenten zugänglich.


Friedensforscher: Sollte die Ukraine den Krieg nach Russland tragen, wird Frieden fast unmöglich
Der Friedensforscher Prof. Dr. Werner Ruf ist einer der Unterzeichner des ersten offenen Briefs, in dem Kanzler Olaf Scholz aufgefordert wird, die Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten , 03.05.2022
 

Der Politikwissenschaftler und Friedensforscher Prof. Dr. Werner Ruf ist Mitverfasser des ersten (!) offenen Briefes an Olaf Scholz, in dem der Kanzler aufgefordert wird, sämtliche Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen. Die DWN haben diesen Brief veröffentlicht und Prof. Ruf zur Sache interviewt.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: In einem offenen Brief fordern Sie Kanzler Olaf Scholz dazu auf, die Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen. Warum soll es falsch sein, es der Ukraine zu ermöglichen, sich selbst zu verteidigen?

Werner Ruf: Zunächst: Verfolgt man die heutige Presse, so gibt es Anzeichen, dass "das Kriegsglück" sich wenden könnte. Heißt: der ukrainische Präsident sieht wohl die Möglichkeit, seinerseits in die Offensive zu gehen und den Krieg auf russisches Gebiet zu tragen. Damit wäre nicht mehr von Verteidigung, sondern von Offensive die Rede. Der Krieg würde ausgeweitet, es ginge auch nicht mehr um Verteidigung. Eine solche Entwicklung wäre die logische Folge auch der jüngsten Waffenlieferungen des Westens, denn Panzer und schwere Artillerie sind nun einmal keine Verteidigungs- sondern Angriffswaffen. Eine solche Ausweitung der Kriegshandlungen würde Verhandlungen, die zunächst einen Waffenstillstand voraussetzen, in sehr weite Ferne rücken. Oberstes Ziel sollte es aber sein, weiteres Blutvergießen und weitere Zerstörungen zu verhindern. Daher auch unsere Forderung, bisher unzerstörte Städte zu „unverteidigten Städten“ zu erklären.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was meinen Sie mit dem Begriff „unverteidigte Städte“?

Werner Ruf: Das Konzept der „unverteidigten Städte“ geht auf die Haager Landkriegsordnung (1907) zurück, die erstmalig ein Kriegsvölkerrecht entwarf. Demzufolge darf eine Stadt oder Siedlung, die auf ihre Verteidigung verzichtet, vom Kriegsgegner zwar besetzt, aber nicht angegriffen werden. Am Ende des 2. Weltkriegs entgingen einige deutsche Städte ihrer totalen Zerstörung durch Anwendung dieses Konzepts. Es wurde nach dem Krieg in den Genfer Abkommen (1949) übernommen. Im aktuellen Fall ist damit gemeint, dass ukrainische Städte angesichts der (zu vermutenden) russischen Überlegenheit vor der Zerstörung geschützt würden und auf diese Weise große Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung vermieden werden können.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Halten Sie eine Strategie der „unverteidigten Städte“ generell für geboten - also auch für den hypothetischen Fall eines russischen Einmarschs in das Baltikum oder gar in Deutschland - oder nur in diesem speziellen Fall der Ukraine? Und falls ja, warum?

Werner Ruf: Vorweg: Die Hypothese eines russischen Angriffs auf die baltischen Staaten oder gar auf Deutschland halte ich für völlig aus der Luft gegriffen. Darüber zu spekulieren, verbietet sich daher.

Die Anwendung dieses Konzepts oder der Strategie, wie Sie es nennen, ist klar auf Städte oder Siedlungen bezogen, deren zivile Bewohner und Bewohnerinnen als "Kollateralschäden", wie solche Kriegsopfer heute genannt werden, massiv von den Kriegshandlungen betroffen wären. Geboten ist eine solche Strategie schon allein, um zivile Opfer der Kriegshandlungen zu minimieren.

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Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Waffenstillstand um jeden Preis? Was halten Sie von dem Argument, es sei aus moralischen Gründen notwendig, der Ukraine die Verteidigung zu ermöglichen?

Werner Ruf: Natürlich haben Politik wie auch Krieg und Frieden immer mit Moral zu tun. Speziell in diesem Krieg wird aber in besonderer Weise mit Moral operiert. Lassen Sie mich erklären: Immer wieder wird auf die Menschenrechte verwiesen. Das wichtigste Menschenrecht ist aber unzweifelhaft das Recht auf Leben. Hier ergibt sich ein Spannungsverhältnis, wenn zur Durchsetzung dieses Menschenrechts Waffen eingesetzt, Menschen mit dem Tode bedroht, ja getötet werden. Die Instrumentalisierung der Moral wird dann vorangetrieben, indem Menschen in Gruppen, ja Nationen eingeteilt und mit den Etiketten "gut" und "böse" klassifiziert werden. Wir haben also zwei Ebenen der Moral: Die eine des grundsätzlichen Gewaltverbots, und eine andere, die nach Schuld und Sühne verlangt, gewissermaßen den "gerechten Krieg" zu rechtfertigen sucht. Liest man allerdings den "Vater" dieses Konzepts, den Hl. Thomas von Aquin (13. Jh.) genau, so lassen sich die eindeutigen Voraussetzungen für einen "gerechtfertigten Krieg" nicht finden. Krieg bleibt also, wie von Aquin zu Beginn seines Traktats auch schreibt, "Sünde", und ist grundsätzlich zu verurteilen.

Bei allen Bemühungen um die Rechtfertigung von Kriegen wird und wurde stets die Moral herangezogen. In Wirklichkeit wissen wir, dass die Motive für die Führung von Kriegen Interessen von Staaten sind. Würden diese aber offen genannt, könnte aber wohl kaum massive öffentliche Unterstützung für das Führen von Kriegen gewonnen werden. Also wird - wie ich meine, besseren Wissens - die Moral bemüht.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie schreiben, die ukrainische Armee habe „kaum eine Chance, diesen Krieg zu gewinnen“. Es gibt allerdings militärische Experten wie beispielsweise den ehemaligen Vier-Sterne-General Egon Ramms (den auch die DWN schon interviewt haben), die anderer Meinung sind. Was sagen Sie zu dem Vorwurf, dass bei Ihrer Einschätzung der Wunsch der Vater des Gedankens ist?

Werner Ruf: In der Tat scheint sich, wie ich oben schon sagte - nicht zuletzt wegen der Lieferung immer indifferenzierter wirkender schwerer Waffen - die anfangs gegebene eindeutige militärische Überlegenheit Russlands abzuschwächen. Wenn dem so sein sollte, könnte das ja auch die Chancen für einen Waffenstillstand und Verhandlungen erhöhen. Das führt zu der Frage: Was will wer mit diesem Krieg erreichen? Ist er nur ein Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, oder stehen dahinter andere, zum Teil geostrategische Interessen? Wenn, wie der US-Verteidigungsminister am 26. April in Ramstein erklärte, die USA (und die NATO) "entschlossen (sind), der Ukraine zum Sieg zu verhelfen und Stärke für morgen aufzubauen", dann gilt in der Tat die von uns formulierte Prämisse nicht mehr. Wir gingen bei der Versendung dieses Briefes von der Verteidigung der Ukraine aus. Dieses Kriegsziel scheint sich geändert zu haben - oder das wirkliche Ziel kommt allmählich zum Vorschein. Wenn die Ukraine nur zum Ort in einer größeren geostrategischen Auseinandersetzung zwischen Russland und den USA gemacht wird, dann könnte dieser Krieg auch von der Ukraine "gewonnen" werden - es ginge dann aber definitiv nicht mehr um die Menschen in der Ukraine, die nur noch Vorwand wären für das Kräftemessen zweier Großmächte im Vorfeld einer Auseinandersetzung, die bis auf die nukleare Ebene eskalieren könnte. Dass ein Stellvertreterkrieg bis auf ein Niveau eskaliert wird, wo General Ramms Recht haben könnte, hoffe ich nicht. Nun gibt es ja auch noch andere (ebenfalls pensionierte) Generäle wie den ehemaligen Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, oder den militärischen Berater der letzten Bundeskanzlerin, Brigadegeneral Erich Vad, die auch die politischen Zusammenhänge und Folgen sehen. Denn ein "Siegfrieden", der mit einem Diktat des Gewinners endet, ist keine Konfliktlösung und damit kein dauerhafter Frieden. Ja: Der Vater des Gedankens unseres Briefes ist die Rettung von Menschenleben.

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Info zur Person: Werner Ruf war von 2010 bis 2013 Dozent an der European Peace University Stadtschlaining (Österreich). Darüber hinaus übernahm Ruf gutachterliche Tätigkeiten u. a. für das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, das Auswärtige Amt und die EU-Kommission. Werner Ruf ist Mitglied der AG Friedensforschung an der Universität Kassel sowie Vertrauensdozent der Rosa-Luxemburg-Stiftung.